Samstag, 31. Juli 2010

Edition - Flügelfeder - No. 12






(weiter Teil II - IV)

II





III





IV





Anna Kamienska

Die andere Seite der Einsamkeit

Ich will auf die andere Seite der Einsamkeit gelangen
dorthin wo kein Regen fällt
und keiner kommt
um gleich wieder seiner Wege zu gehen

Dort sitzen die Toten
alle in prächtiger Eintracht
fröhlich
wie an einer wohlbestellten Tafel

Die andere Seite der Einsamkeit
ist eine durchaus reale
in sie denk ich mich hinein wenn ich nicht da bin
und auf einmal finde ich die verlorene Münze der Kindheit wieder

Auf der anderen Seite der Einsamkeit
schläfst du hingegeben den Ellenbogen unter dem Kopf
und ich würde gern wissen wer dort Gedichte schreibt
dass er sie mir manchmal leichthin zusteckt

Ist es dort finster
auf der anderen Seite der Einsamkeit
oder strahlt ein unschuldiger Glanz
ein ewiges Licht von Mamas Kleid

Immer öfter verschwinde ich auf der anderen Seite der Einsamkeit
und wie es scheint bin ich völlig glücklich



aus „Eine Handschrift gefunden im Schlaf“
aus dem Polnischen übertragen von Karin Wolff
Evangelische Verlagsanstalt Berlin 1985

Mittwoch, 28. Juli 2010

Unbewuszter Engel

Sie wollte sich um die nichtssagendste Person der Stadt kümmern, weil diese auch die bedeutendste Person der ganzen Stadt war, eine Frau, die aus keinem anderen Grund lebte als dem, bei ihrer Geburt ein Leben zu leben bekommen zu haben, und nichts anderes; und seitdem erhält sie es und sagt sich oft im Geheimen: „Welches Glück für mich, daß ich, die so wenig Bedeutung hat, die Besitzerin eines Lebens bin.“
Und da sagte sich Clarice: Das hier ist die einzige Frau, die mich lehren könnte, was ich von meinem hohen Alter aus, meinem Gedächtnis, meinem Schatz an Bildern, und meinen Schränken und meinem Schmuck und meinen vier Bleistiften und meiner Schreibmaschine aus unfähig bin, zu wissen, das hier ist die, die mich in die Ursprungsgrotte führen könnte. Und diese Frau, Clarice, hat sich als unbewußter Engel dazu entschieden, sie zu der Hölle zu führen, die sie so ersehnte, eine arme Mücke mit dem Namen Macabea, etwas verlaust, mit wenig Haaren aus Vitaminmangel, Jucken im Geschlecht – nur wegen Herpes, nicht einmal vom Geschlechtsverkehr, - aber sie hat sie sich geholt, wie man sich anderes holt, was man nicht verdient hat in so manchem Leben.
Sie also hat eine Frau wegen der Liebe gewählt: weil sie die ärmste und reinste Liebesgeschichte erzählen wollte. Eine so reine Geschichte, daß es darin absolut nichts anderes zu sagen gibt als die ungeschliffene Liebe, die kleinen Goldpailletten am Grund der düsteren Abflußrinne; und am Grund der bedürftigsten Höhlen sind es natürlich die Frauen, die das wunderbare Feuer hüten.

Helene Cixous
aus „Das Buch von Promethea“






PS: Eigentlich wollte ich die Texte der Leporellos hier nicht mit aufschreiben… aber irgendwie erscheint es mir dann doch wieder richtig, wenn sie auch lesbar sind.
– Vielleicht auch ein Anstosz, das Buch zu lesen (?)

Dienstag, 27. Juli 2010