Mittwoch, 11. August 2010

Garten - Paradies

"Die frühesten Gärten waren nicht von Mauern umgeben, um die Tiere draußen zu halten, sondern um sie drinnen zu halten, damit sie nicht von Fremden gejagt werden konnten. Das persische Wort für diese ummauerten Heiligtümer ist pairidaeza, das hebräische pardes, auf Griechisch paradeisos.
Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes "Paradies" ist einfach nur "umfriedeter Garten".

Anne Michaels, aus „Wintergewölbe“





Dienstag, 10. August 2010

Stadtpläne

Hier noch einmal ein Abschnitt aus dem Buch „Wintergewölbe“ von Anna Michaels. Der mich ganz besonders anspricht.
Aber eigentlich ist das ganze Buch voll davon – und absolut lesenswert!

Lucjan arbeitet an einer Reihe von Stadtplänen, deren Größe so gewählt war, dass sie zusammengefaltet ins Handschuhfach eines Autos passen würden. Er malte sehr detailgetreu, wie bei dem mittelalterlichen Buchschmuck in einer illuminierten Handschrift. Jeder Beruf, so hatte er Jean erklärt, bekomme einen eigenen stadtplan: die Rattenfänger und Kammerjäger, die Waschbärfänger, die Wasserwirtschafts- und Abwasser- und Straßenbauarbeiter. Es gebe eine Straßenkarte für Mütter, auf denen alle Zoohandlungern und Waschsalons eingetragen seien, auch die Stellen, wo man Kiefernzapfen sammeln könne, sowie die Breite der Gehsteige und die Tiefe der Schlaglöcher, die wegen der Kinderwagen, Dreiräder und gezogenen Wägelchen angegeben seien. Die Strickerinnen würden einen eigenen Stadtplan bekommen, auf dem jedes Wollgeschäft der Stadt eingetragen sei. Lucjan machte einen Plan mit außergewöhnlichen Baumwurzeln, mit Windkorridoren und Wasserabflüssen. Er machte einen Kaffeeplan ( auf dem nur ein einziger Standort verzeichnet war), einen Zuckerstadtplan, einen Schokoladenstadtplan, einen Gingkostadtplan, einen Trauerweidenstadtplan, einen Stadtplan der Brücken, der öffentlichen Trinkwasserbrunnen, der Felsbrocken mit mehr als zweieinhalb Metern Durchmesser. Einen Stadtplan der Schuster. Einen Stadtplan der Weinstöcke, einen Stadtplan für das Drachensteigen (Erhebungen ohne Überlandleitungen), einen Stadtplan für das Schlittenfahren (Erhebungen ohne Straßen oder Zäune am unteren Ende). Dann gab es noch die persönlichen Stadtpläne. Den Reuestadtplan. Den Verlegenheitsstadtplan. Den Streitstadtplan. Den Enttäuschungsstadtplan (die bittere und die milde Ausführung). Den Stadtplan der Toten; die Friedhöfe, die an senkrechten Steilhängen errichtet waren. Und den Stadtplan, an dem er gerade gearbeitet hatte, als er Jean kennen lernte – den vielleicht schönsten von allen - , einen Stadtplan des Unsichtbaren, einen geistigen Stadtplan, auf dem eingezeichnet war, wo jemand eine Idee, eine Angst, eine heimliche Hoffnung erlebt hatte; einige dieser Stellen waren allgemein bekannt, andere ganz privat. Eine Kreuzung, an der die Idee zu einem Roman gekommen war, ein Park, in dem von einem Kind geträumt worden war. Das Ufer, an dem sich ein Architekt seine eigene Skyline vorstellte. Die Bank, auf der ein Maler eine Vorahnung seines Todes hatte. „Wie malt man denn etwas, was nicht da ist?“, fragte Jean. „Man malt die Stelle genau so, wie man sie sieht“, sagte Lucjan. „Dann malt man sie noch einmal.“


Donnerstag, 5. August 2010

Wjatscheslaw Kuprijanow

Отражение солнца
в пруду
больше
самого солнца

берег
где ты стоишь
обширней
вселенной

Die Spiegelung der Sonne
im Teich
ist mehr
als die Sonne selbst

Das Ufer
auf dem du stehst
ist weiter
als das All


aus „Wie man eine Giraffe wird“
- Edition Eisvogel - im Alkyon Verlag 1989
herausg. und übersetzt: Rudolf Stirn

Mittwoch, 4. August 2010

Was weisz ich schon...

Was weisz ich schon…
vom Dasein diese Katze?
Die da lautlos durch die Sträucher schleicht –
Ich liege im Garten. Lesend.
Ganz in mein Buch vertieft.
Kann sie eigentlich nicht sehn.
Weil sie nicht zu sehen ist.
Im Dickicht.
Und zu hören schon gar nicht.
Und doch – ahne ich sie.
Da hinten am Zaun entlang.
Schleicht mit verhaltenen Pfoten
bis zu der Stelle
wo oft ihre Rivalin liegt.
Doch jetzt liegt sie nicht.
Eine kommt vormittags
die andere nachmittags.
Sollten sie sich doch begegnen
gibt es Zoff.
Aber richtig.
So verharrt sie nur – reglos –
eine Weile
dann dreht sie um
und schleicht davon.
Genauso lautlos.
Verhalten.
Beschäftigt.
Sieht mich scheinbar nicht.
Nach Streicheln ist ihr auch nicht.
Jetzt gerade.
Was weisz ich schon …
vom Dasein dieser Katze?

Kleinkram...


Eine junge Amsel erkundet den Hof. Mittlerweile sind sie alle sicher in der Lüften...


Blühende Kräuter werden von Schmetterlingen und diversen Insekten belagert

Ein Kresse-Muster...

Blaue Stelen im Apfelgarten (Kunstinstallation, gesehen im Kloster Drübeck)

Dienstag, 3. August 2010

Garten


"...Jeder Garten ist wie ein lebendiges Haus, sagte sie, man sollte einfach mitten in den Garten gehen und sich dort hinlegen können... und den Blättern zusehen, wie sie sich bewegen wie ein Vorhang hinter einem imaginären Fenster..."

Anne Michaels
- aus "Wintergewölbe" -

Montag, 2. August 2010

Heilpflanzen

Ein Text aus dem Roman „Wintergewölbe“ von Anna Michaels – also keine wissenschaftliche Anleitung ;-)
Ich finde diesen Textabschnitt ganz wunderbar, tröstlich, warmherzig und inspirierend…
Genau wie das ganze, sehr vielschichtige Buch. – Wieder ein Lesetip von mir!


„…Auf dem Markt von Wadi Halfa kam Jean auch auf die Idee, einen Heilpflanzenatlas zusammenzustellen. Es sollte ein Geschenk für Avery werden: vielleicht konnte sie Mathilde dazu bringen, es zu illustrieren. Eine Zusammenstellung imaginärer Pflanzen, um ganz reale, aber schwer definierbare Leiden zu behandeln. Sie sah sich gerade einen Band von Linne an – irgendjemand hatte darin Randnotizen auf Spanisch angebracht -, als sie auf den Gedanken kam. Balsame, Tinkturen, Salben, Tees, Pasten, Umschläge, Inhalierpräparate, für alle, die in der Fremde sind, für alle, die zuhause bleiben müssen, für alle, die bettlägerig sind, im Sommer, im Herbst, bei Regen. Für alle, die besonders wetterfühlig sind und dabei auch noch unter Mutlosigkeit, Reue oder Scham leiden. Für alle, die seit zwei Monaten keine menschliche Berührung mehr genossen haben oder seit einem Jahr oder seit vielen Jahren – hier muss die Dosis jeweils angepasst werden. Für alle, die alles verloren haben, weil sie falsch verstanden wurden. Für alle, die den Wind nicht mehr spüren, nicht einmal mehr auf der nackten Haut. Eine Salbe aus adstringierender Nusseibe für alle, die an Geiz leiden. Moosbalsam für alle, die farbenblind geworden sind, für alle, die das Empfindungsvermögen, für alle, die die Fähigkeit zum Mitgefühl verloren haben, die Fähigkeit, anderen oder sich selbst zu vergeben. Die Rinde aufbrühen, in besonders dringenden Fällen auch direkt auflegen, ohne sie vorher zu kochen. Unbedenklich für Kinder und andere Tiere. Wirkungslos bei Männern mit langen Haaren; zur sofortigen Wirkung stündlich auftragen; für alle, die von zuviel Hoffnung geschwächt sind, für alle, die von zuviel Verzweiflung geschwächt sind, für alle, die an Land festsitzen und sich nach den hohen See verzehren, für alle, die Angst vor der See haben, für alle, die Angst vor der Oper haben. Für alle, die Angst vor Musik haben, die mit leiser Stimme von Frauen gesungen wird, die alles verloren haben. Für alle, die zuviel Schokolade essen, für alle, die nicht genug Schokolade essen. Für alle, die das Beten verlernt haben, auf Hände und Knie eine Milch aus den Schoten der Humilitas immensita auftragen, eine stark riechende Knolle zur Behandlung von Wunden an Augen, Herz, Händen, Ohren, Genitalien, Lippen und Geist. Für alle, die an Verlustschwindel leiden, sehr wirksam – darf nur einmal benutzt werden – Vorsicht, unter dem Einfluss dieser Arznei keine schweren Maschinen bedienen und keine wichtigen Entscheidungen treffen. Blätter des Illuminatus für alle, die sich verlaufen haben oder auf Abwege geführt wurden, nur die kleinen Blättchen dicht am Stiel verwenden, die schwach fluoreszieren: wirkt auch, wenn man moralisch in der Klemme steckt. Mit glänzenden Blüten… Pflanzen mit starkem Duft… Nur die innere Rínde verwenden… Samen und Mark ausschaben… In der Küche ein guter Ersatz bei Unverträglichkeit von Knoblauch… Nur den Stiel der Pflanze benutzen, in Salzwasser kochen, in Zuckerwasser kochen. Wenn das Wasser kocht, den Vorgang wiederholen Zum Abschwellen. Direkt auf die affizierte Stelle auftragen. Linderndes Öl für Füße, die zu lange in drückenden Schuhen gesteckt haben, für alle, die zu lange in einer Schlange haben anstehen müssen. Um Narben verschwinden zu lassen. Milchführende Schoten, milchführende Stiele; Blätter und Stiele, die einen klaren Saft ausschwitzen, „Hundehaar“-Nesseln, Dornen, Brombeerranken, Disteln. Salben für alle, deren Zorn nie abebbt, eine Paste für alle, die jedes Gefühl in den Händen verloren haben, ebenso wie für andere Arten körperlicher Starre. Umschläge für alle, die nicht aufhören können zu weinen, bringen gleichzeitig bei allen, die nicht weinen können, die Tränen zum Fließen. Tee für alle, die sich nicht an ihre Träume erinnern können, ebenso wie für alle, die nicht vergessen können. Consolatum empathanum, Salbe für Augen, die zuviel gesehen haben oder nicht genug gesehen haben. Adstringierende Flüssigkeit aus Dornen für alle, die eine schwere Krankheit vortäuschen, um sich das Mitleid anderer zu erschleichen, und die alle jene strafen, die ihnen dieses missbräuchliche Mitleid vorenthalten. Direkt auf die Zunge auftragen. Direkt auf die Augenlider auftragen. Augenkontakt vermeiden. Wiederholen, bis der Drang zur Verstellung eliminiert ist. Abends erneut auftragen. Zweifache – oft gegensätzliche Wirkung, je nach Schwere des Leidens…“

Ana Michaels „Wintergewölbe“
Deutsch von Nora Matocza und Gerhard Falkner
Berlin Verlag 2009