Dienstag, 10. August 2010

Stadtpläne

Hier noch einmal ein Abschnitt aus dem Buch „Wintergewölbe“ von Anna Michaels. Der mich ganz besonders anspricht.
Aber eigentlich ist das ganze Buch voll davon – und absolut lesenswert!

Lucjan arbeitet an einer Reihe von Stadtplänen, deren Größe so gewählt war, dass sie zusammengefaltet ins Handschuhfach eines Autos passen würden. Er malte sehr detailgetreu, wie bei dem mittelalterlichen Buchschmuck in einer illuminierten Handschrift. Jeder Beruf, so hatte er Jean erklärt, bekomme einen eigenen stadtplan: die Rattenfänger und Kammerjäger, die Waschbärfänger, die Wasserwirtschafts- und Abwasser- und Straßenbauarbeiter. Es gebe eine Straßenkarte für Mütter, auf denen alle Zoohandlungern und Waschsalons eingetragen seien, auch die Stellen, wo man Kiefernzapfen sammeln könne, sowie die Breite der Gehsteige und die Tiefe der Schlaglöcher, die wegen der Kinderwagen, Dreiräder und gezogenen Wägelchen angegeben seien. Die Strickerinnen würden einen eigenen Stadtplan bekommen, auf dem jedes Wollgeschäft der Stadt eingetragen sei. Lucjan machte einen Plan mit außergewöhnlichen Baumwurzeln, mit Windkorridoren und Wasserabflüssen. Er machte einen Kaffeeplan ( auf dem nur ein einziger Standort verzeichnet war), einen Zuckerstadtplan, einen Schokoladenstadtplan, einen Gingkostadtplan, einen Trauerweidenstadtplan, einen Stadtplan der Brücken, der öffentlichen Trinkwasserbrunnen, der Felsbrocken mit mehr als zweieinhalb Metern Durchmesser. Einen Stadtplan der Schuster. Einen Stadtplan der Weinstöcke, einen Stadtplan für das Drachensteigen (Erhebungen ohne Überlandleitungen), einen Stadtplan für das Schlittenfahren (Erhebungen ohne Straßen oder Zäune am unteren Ende). Dann gab es noch die persönlichen Stadtpläne. Den Reuestadtplan. Den Verlegenheitsstadtplan. Den Streitstadtplan. Den Enttäuschungsstadtplan (die bittere und die milde Ausführung). Den Stadtplan der Toten; die Friedhöfe, die an senkrechten Steilhängen errichtet waren. Und den Stadtplan, an dem er gerade gearbeitet hatte, als er Jean kennen lernte – den vielleicht schönsten von allen - , einen Stadtplan des Unsichtbaren, einen geistigen Stadtplan, auf dem eingezeichnet war, wo jemand eine Idee, eine Angst, eine heimliche Hoffnung erlebt hatte; einige dieser Stellen waren allgemein bekannt, andere ganz privat. Eine Kreuzung, an der die Idee zu einem Roman gekommen war, ein Park, in dem von einem Kind geträumt worden war. Das Ufer, an dem sich ein Architekt seine eigene Skyline vorstellte. Die Bank, auf der ein Maler eine Vorahnung seines Todes hatte. „Wie malt man denn etwas, was nicht da ist?“, fragte Jean. „Man malt die Stelle genau so, wie man sie sieht“, sagte Lucjan. „Dann malt man sie noch einmal.“


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