Montag, 2. August 2010

Heilpflanzen

Ein Text aus dem Roman „Wintergewölbe“ von Anna Michaels – also keine wissenschaftliche Anleitung ;-)
Ich finde diesen Textabschnitt ganz wunderbar, tröstlich, warmherzig und inspirierend…
Genau wie das ganze, sehr vielschichtige Buch. – Wieder ein Lesetip von mir!


„…Auf dem Markt von Wadi Halfa kam Jean auch auf die Idee, einen Heilpflanzenatlas zusammenzustellen. Es sollte ein Geschenk für Avery werden: vielleicht konnte sie Mathilde dazu bringen, es zu illustrieren. Eine Zusammenstellung imaginärer Pflanzen, um ganz reale, aber schwer definierbare Leiden zu behandeln. Sie sah sich gerade einen Band von Linne an – irgendjemand hatte darin Randnotizen auf Spanisch angebracht -, als sie auf den Gedanken kam. Balsame, Tinkturen, Salben, Tees, Pasten, Umschläge, Inhalierpräparate, für alle, die in der Fremde sind, für alle, die zuhause bleiben müssen, für alle, die bettlägerig sind, im Sommer, im Herbst, bei Regen. Für alle, die besonders wetterfühlig sind und dabei auch noch unter Mutlosigkeit, Reue oder Scham leiden. Für alle, die seit zwei Monaten keine menschliche Berührung mehr genossen haben oder seit einem Jahr oder seit vielen Jahren – hier muss die Dosis jeweils angepasst werden. Für alle, die alles verloren haben, weil sie falsch verstanden wurden. Für alle, die den Wind nicht mehr spüren, nicht einmal mehr auf der nackten Haut. Eine Salbe aus adstringierender Nusseibe für alle, die an Geiz leiden. Moosbalsam für alle, die farbenblind geworden sind, für alle, die das Empfindungsvermögen, für alle, die die Fähigkeit zum Mitgefühl verloren haben, die Fähigkeit, anderen oder sich selbst zu vergeben. Die Rinde aufbrühen, in besonders dringenden Fällen auch direkt auflegen, ohne sie vorher zu kochen. Unbedenklich für Kinder und andere Tiere. Wirkungslos bei Männern mit langen Haaren; zur sofortigen Wirkung stündlich auftragen; für alle, die von zuviel Hoffnung geschwächt sind, für alle, die von zuviel Verzweiflung geschwächt sind, für alle, die an Land festsitzen und sich nach den hohen See verzehren, für alle, die Angst vor der See haben, für alle, die Angst vor der Oper haben. Für alle, die Angst vor Musik haben, die mit leiser Stimme von Frauen gesungen wird, die alles verloren haben. Für alle, die zuviel Schokolade essen, für alle, die nicht genug Schokolade essen. Für alle, die das Beten verlernt haben, auf Hände und Knie eine Milch aus den Schoten der Humilitas immensita auftragen, eine stark riechende Knolle zur Behandlung von Wunden an Augen, Herz, Händen, Ohren, Genitalien, Lippen und Geist. Für alle, die an Verlustschwindel leiden, sehr wirksam – darf nur einmal benutzt werden – Vorsicht, unter dem Einfluss dieser Arznei keine schweren Maschinen bedienen und keine wichtigen Entscheidungen treffen. Blätter des Illuminatus für alle, die sich verlaufen haben oder auf Abwege geführt wurden, nur die kleinen Blättchen dicht am Stiel verwenden, die schwach fluoreszieren: wirkt auch, wenn man moralisch in der Klemme steckt. Mit glänzenden Blüten… Pflanzen mit starkem Duft… Nur die innere Rínde verwenden… Samen und Mark ausschaben… In der Küche ein guter Ersatz bei Unverträglichkeit von Knoblauch… Nur den Stiel der Pflanze benutzen, in Salzwasser kochen, in Zuckerwasser kochen. Wenn das Wasser kocht, den Vorgang wiederholen Zum Abschwellen. Direkt auf die affizierte Stelle auftragen. Linderndes Öl für Füße, die zu lange in drückenden Schuhen gesteckt haben, für alle, die zu lange in einer Schlange haben anstehen müssen. Um Narben verschwinden zu lassen. Milchführende Schoten, milchführende Stiele; Blätter und Stiele, die einen klaren Saft ausschwitzen, „Hundehaar“-Nesseln, Dornen, Brombeerranken, Disteln. Salben für alle, deren Zorn nie abebbt, eine Paste für alle, die jedes Gefühl in den Händen verloren haben, ebenso wie für andere Arten körperlicher Starre. Umschläge für alle, die nicht aufhören können zu weinen, bringen gleichzeitig bei allen, die nicht weinen können, die Tränen zum Fließen. Tee für alle, die sich nicht an ihre Träume erinnern können, ebenso wie für alle, die nicht vergessen können. Consolatum empathanum, Salbe für Augen, die zuviel gesehen haben oder nicht genug gesehen haben. Adstringierende Flüssigkeit aus Dornen für alle, die eine schwere Krankheit vortäuschen, um sich das Mitleid anderer zu erschleichen, und die alle jene strafen, die ihnen dieses missbräuchliche Mitleid vorenthalten. Direkt auf die Zunge auftragen. Direkt auf die Augenlider auftragen. Augenkontakt vermeiden. Wiederholen, bis der Drang zur Verstellung eliminiert ist. Abends erneut auftragen. Zweifache – oft gegensätzliche Wirkung, je nach Schwere des Leidens…“

Ana Michaels „Wintergewölbe“
Deutsch von Nora Matocza und Gerhard Falkner
Berlin Verlag 2009

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