Mittwoch, 10. Juni 2020

Bücherschätze - und Natascha Wodin -




Hier wieder einige Bücher, die neu ihren Platz bei mir gefunden haben.
Keine Neuerscheinungen... denn ich kann mir Bücher prinzipiell
erst etl. Jahre später - günstig gebraucht - leisten.
Aber das stört mich nicht, ich bin da geduldig und irgendwann komme ich
auch auf diese Weise zu den Objekten meiner Sehnsucht.
Und zu diversen Zufällen sowieso.


So eine Zufallsentdeckung ist für mich Natascha Wodin.
Das erste Buch, hier beschrieben, kam zufällig zu mir
und machte mir Lust auf mehr, dann gezielt gekauft.

Begonnen mit

"Sie kam aus Mariupol"

Die Geschichte ihrer Mutter bzw. die ganze im Dunkel liegende Familiengeschichte, 
welche die Autorin sich selbst erst in den letzten Jahren durch 
Internetrecherche und freundliche Hilfe aus Ruszland
Stückchen für Stückchen erschlieszen konnte.
Von ihren Eltern erfuhr sie darüber so gut wie nichts.

Teil eins war für mich etwas schwierig.
Ich bin ja selbst kein Familienmensch und komme schon mit der eigenen Genealogie und Sippe immer wieder durcheinander... umso verwirrender ist für mich eine so weitverzweigte fremde Verwandtschaft, aus ukrainisch-italienischem Adel der Jahrhundertwende
 in der Vielvölkerstadt Mariupol.
Aber hochinteressant!

Teil zwei ist für mich der Beste: erzählt nach den Erinnerungen ihrer Tante Lidia (*1911),
 welche sich zufällig in ein paar handschriftlichen Heften 
im Besitz N. Wodins noch lebenden Cousins anfanden.
Und den Weg zu ihr nach Deutschland fanden...

Lidia, die sehr jung ins Straflager im hohen Norden kam, aber durch einige Wunder
 überlebte und sogar noch die postsowjetische Zeit erfuhr.
Ohne dasz N.Wodin davon wuszte...

Ich fühlte mich fast in Paustowskis autobiographische Romane versetzt - 
die Revolutionsjahre, vorher und danach - einmal nicht aus dem Geschichtsbuch,
 sondern aus persönlichem Erleben geschildert:
 - sie alle zogen ihre Spur der Verwüstung auch durch Mariupol 
und das herrschaftliche Anwesen der Familie.
 Jeder plünderte, was er noch finden konnte und liesz die Menschen 
in immer gröszerem Elend zurück.
Auch der kommunistische Vater - deswegen vorher in Verbannung -
 geht genauso zugrunde wie die verhaszten Kulaken und Adligen der Zarenzeit.
Geschildert wird das Ganze hier aus der Sicht eines Kindes.

Da, wo Paustowski aufhört (und höchstens Prischwin weitererzählt in zu Lebzeiten Unveröffentlichtem)...bei der Zwangskollektivierung und den 
schlimmen Hungersnöten... geht es hier weiter.
Eindrucksvoll.
Bedrückend.

Dann das sowjetische Straflager und mehr - das kann und will
ich nicht wiedergeben - das Buch lohnt sich einfach zu lesen!

In Teil drei und vier die Geschichte ihrer Eltern - ihre Flucht 
bzw. Verschleppung im 2. Weltkrieg
und Internierung als Zwangsarbeiter in Deutschland.
Und auch die Zeit danach, von Natascha Wodin (*1945)
dann schon selbst erlebt.
Ein Stück gelebte Geschichte und hier bei uns fast völlig unbekannt.
Die Millionen unter Hitler deportierten Ost-Arbeiter in der deutschen Rüstungsindustrie.
Ukrainer in der Hirarchie ganz unten.

KZ-Opfer bekamen wenigstens ein Denkmal, Zwangsarbeiter nicht.
Und die Überlebenden im Nachkriegsdeutschland - Fremde, Ausgegrenzte für immer geblieben.
Zurück konnten sie nicht.
Die Zurückgeschickten wurden bei Ankunft in der UdSSR 
als Kollaborateure erschossen. 
Familie Wodin gelang das Überleben in Deutschland..
Zu welchem Preis - ? -

Das Buch ist schockierend und unbedingt lesenswert.


Die Mutter erzählt dem Kind ein Märchen von der gläsernen Stadt.
Ergo lese ich weiter in Natascha Wodins

"Die gläserne Stadt"

Ein Buch von 1983, N. Wodins poetischer und zugleich klarer 
und schonungsloser Schreibstil findet schon hier seinen Anfang.
Ihr Leben als Dolmetscherin, das Pendeln zwischen BRD und Moskau, 
Gegensätze zweier Welten.
Die dortige habe ich ganz ansatzweise auch real erlebt.
Natürlich für mich ganz besonders interessant dieser Alltag.
Die trotz Zensur und Kommunismus lebendige und kreative Literaturszene Moskaus
 - so viele Namen klingen mir vertraut, erinnern mich am frühere Bücher!
Eine Liebesgeschichte auch, sie nennt ihn dort L.
Mit etwas Recherche könnte ich ihn vielleicht herausfinden... 
aber das tut nichts zur Sache, ist nicht wichtig für dieses Buch.

Zugegeben: einige Passagen endloser Gefühlsgrübeleien habe ich überlesen - sind es für mich doch mehr die Schilderungen des Umfelds, der Lebensumstände als die Liebesgeschichte selbst.
Bereut habe ich die Lektüre nicht, anderen Lesern in "West" mag vieles sehr fremd vorkommen.
Aber genau darin liegt der Reiz des Buches.


Und gleich weiter mit

"Irgendwo in diesem Dunkel."

Das Buch über den Vater.
Einige Jahre vor dem über die Mutter geschrieben.
Als ihr selbst ihre Herkunft noch fremd war und im Dunkel lag.

Nachkriegskindheit als "deplaced person", wie man die Zwangsarbeiter später nannte.
Anfangs in Lagern, später in extra-Wohnanlagen hübsch von der Bevölkerung getrennt.
Nationalitäten zusammengewürfelt. Sprachengewirr.
Ausgestoszene. Unerwünschte.
So etwas prägt.
Eltern und Kinder.

Nach dem frühen Freitod der Mutter Waisenhauserfahrungen
und dann, mit 16, vom Vater zurückgeholt.
Als Dienstmagd gehalten und mehr.
Eine unbeschreibliche Brutalität und Gleichgültigkeit gegenüber der
erstgeborenen Tochter (die jüngere Schwester wurde besser behandelt).
Gewaltexzesse, eingesperrt bis zum Verhungern und ausgesperrt
bis zum Erfrieren wechseln sich ab.
Wie kaputt musz ein Mensch dafür wohl selbst sein?

Über ihn und seine Vorgeschichte bekommt sie leider so gut wie nichts heraus.
Auch der einzige noch lebende Bruder des Vaters bei Moskau
- durch Zufall gefunden und extra aufgesucht - will ihr nichts sagen.
Ganz bewuszt nicht.

So bleibt vieles irgendwo im Dunkel.
Wird nie zu erfahren sein.
Ruszland ist grosz, Revolutionswirren sind heute kaum noch nachzuzeichnen.
Nachvollziehbar schon gar nicht.

Sie selbst, teils vom Vater verstoszen, teils aus eigener Entscheidung gegangen...
wird zur Streunerin im sich vom Kriegtstrauma erholenden 
Deutschland der beginnenden Sechzigerjahre.
Erfährt also auch hier Hunger, Gewalt, Vergewaltigung.
Unglaublich, was ein Mensch überleben kann!
Und für mich persönlich ziemlich unverständlich, warum sie sich später,
als längst unabhängige Erwachsene, bis zum Ende noch um ihren Vater kümmert.
Ich hätte ihn verrotten lassen im Altersheim.
So, wie er sie verkommen und fast sterben liesz seinerzeit.

Ein Buch, das den Leser nicht schont.
Ein Buch, das ich kaum weglegen konnte.
Wem reale Geschichten lieber sind als Fantasy-Grausamkeit...
dem möchte ich Natascha Wodins Bücher ans Herz legen.

Und ich selbst bin mit ihr noch lange nicht fertig.





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