Das Mädchen stand im Halbdunkel des Dachbodens.
Unten war wieder Stimmung und drauszen regnete es.
Blieb also nur dieser eine Fluchtort.
Wie sie das hasste: diese Atmosphäre von mutwilligem Unverständnis,
Aggression und Gewalt...immer dann,
wenn beide Eltern einmal gleichzeitig zuhause waren.
Was zum Glück nicht oft vorkam...aber am Ende
würde sich jeder für sich wieder an ihr abreagieren.
So sie denn greifbar war.
Also lieber verschwinden.
Wütend trat sie gegen einen Stapel leerer Pappkartons,
der polternd umfiel.
Sie trat gleich noch einmal zu.
Wie aufgeschreckte Hühner stoben nun auch die Untersten davon.
Jetzt war der Blick frei auf einen verstaubten Wäschekorb,
der unter der Schräge stand.
Olle Lumpen, dachte sie sich.
Doch die Neugier regte sich und sie begann,
mottenzerfressenes Zeug in Augenschein zu nehmen.
Vielleicht war ja etwas für ein Faschingskostüm dabei?
Dunkel erinnerte sie sich, den braunen Umhang damals
an der alten Frau gesehen zu haben, die mehrmals täglich
über den Korridor schlurfte bis zur Toilette,
die sich eine halbe Treppe tiefer befand.
Sie war freundlich gewesen zu dem Kind,
redete aber sonst kaum.
Im Haus wurde sie Julchen genannt und galt als wunderlich.
Wie lange das nun schon her war!
Sie kramte weiter in staubigem Tand herum und zog schlieszlich
eine in Leder eingeschlagene Kladde heraus.
Sah ganz so aus, als hätte die viel mitgemacht.
Aufgeschlagen fand sie Seiten in schöner Schrift.
Manchmal verwischt oder durchgestrichen,
manchmal auch zittrig geschrieben.
Klein und mit Bleistift.
Lesen konnte sie erst einmal nichts.
Es wechselte von Deutsch zu Russich
und das sah ganz anders aus als das Russisch des Schulunterrichts.
Es wimmelte von Härtezeichen - die kannte sie zwar aus dem Alphabet,
wuszte jedoch kein Wort, in dem ein solches vorkam.
Naja, allzu viele Wörter wuszte sie ohnehin noch nicht.
Auch mehrere andere Zeichen gab es,
die waren ihr bisher noch nie begegnet.*
Sie rätselte an die drei Jahre, bis die alte
und noch dazu fremde Sprache ihre Geheimnisse preisgab.
Das Mädchen galt nicht umsonst als sprachbegabt
Der Text enthüllte eine Geschichte von Krieg, Flucht und Revolution.
Wirre Zeiten und eine junge Frau, die darin fast verloren ging.
Nicht immer schlüssig, teils fehlten auch Seiten.
Eine Flucht vor den Bolschewiki, die Angehörige umgebracht hatten.
Eine Geschichte von Angst, Verstecken, nächtlichem Wandern.
Von Zügen, die irgendwo auf der Strecke blieben.
Von Posten, Kommandorufen, fernen oder nahen Schüssen.
Von Hunger, Krankheit, Verzweiflung, unendlichem Leid.
Die Mutter liesz sie in Cherson zurück, zu krank für weitere Reisen.
Die junge Frau schaffte es schlieszlich nach Deutschland, dank einiger Helfer.
Zu vertrauen war immer ein Risiko.
Nach zwei Jahren Umherirrens kam sie an in der kleinen Stadt.
Nur noch ein Schatten ihrer selbst.
Ein guter Freund ihrer Familie verbrachte hier seinen Ruhestand.
Seine Familie nahm sie auf, so dasz auch sie zur Ruhe kommen konnte.
Etliche Jahre brauchte sie dazu.
Die Alpträume kamen immer wieder.
Hier war sie erst einmal sicher. Schaute sich um.
Wurde mit einigen anderen Migranten bekannt gemacht.
Die es auch bis nach Deutschland geschafft hatten.
In diese kleine Stadt.
Ein ruhige Zeit brach an, doch dahinter
stand immer das Trauma von Flucht, Gewalt und Tod.
Dann brach ein neuer Krieg los.
Bomben, Keller, Ängste.
Der General a.D. wurde zu Grabe getragen.
Die Familie fiel auseinander, zerstreute sich.
Julie blieb in der Villa.
Verschanzte sich hinter verriegelter Tür.
Fremde Menschen bewohnten nun das Haus.
Lieszen sie aber in Ruhe.
Bis die Russen kamen.
Da wurde sie geholt und verhört.
Ihr Name klang verdächtig.
Zitternd sasz sie in einer Zelle.
Erwartete das Ende.
Doch sie kam wieder frei.
So wurde sie zum dritten Male geboren.
Verschreckt, verhuscht, traumatisiert.
Sie durfte bleiben, man liesz ihr das eine Zimmer.
Das hatte nicht einmal einen Wasserhahn.
Und Leben hiesz auf der Hut sein.
Genau wie damals. Jetzt und immer.
Auch wenn manche Menschen freudlich zu ihr waren.
So hatte das Mädchen nun alles dechiffriert, was lesbar war.
Sie verwahrte das Buch sorgfältig.
Zeigte es niemandem.
Lieber nicht!
Sie war sehr nachdenklich geworden.
Das alles war so anders als ihr Geschichtsunterricht.
Wo die Guten die Bösen hingerichtet hatten:
die Zarenfamilie, den Adel, die Kulaken, die Militärs.
Auf dasz das Volk die Macht übernahm und künftig gut lebte.
Das war ja alles so einfach! Man muszte nur gründlich säubern.
So langsam bekam sie eine Ahnung von den Opfern,
die es wohl immer und bei allen Umbrüchen gab.
Waren die wirklich alle schuldig?
Hatte diese Frau jemals jemandem etwas getan?
Fragen ohne Antwort.
Die behielt sie besser für sich.
Genau wie das Buch.
Man muszte auf der Hut sein.
Eigentlich galt das auch jetzt.
*
Anmerkung: Julie gah es wirklich gegeben (nur ihre Fluchtgeschichte ist fiktiv) - sie lebte als Julie von Blomberg in einem einzigen Zimmer in dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin und starb kurz vor meinem sechsten Geburtstag. Ich habe alles, an was ich mich erinnere und was übers Internet an Fakten zu finden war, schon einmal hier zusammen gefaszt. Falls doch noch einmal irgend jemand nach ihr suchen sollte -
Ich bin vermutlich die Letzte, die sich noch lebhaft an sie erinnert, alle anderen Menschen sind längst verstorben. Da sie kaum das Haus verliesz, dürften die Kinder meiner Generation, die damals auf der Strasze spielten, wohl keine bewuszten Erinnerungen haben.
Ihr Tagebuch hätte ich ja zu gerne gefunden! Habe ich aber nicht.
Falls es eines gab, wurde es damals nach ihrem Tod beräumt und entsorgt - da lag später auch nichts mehr in ihrer Ecke auf dem Dachboden.
Das alles zu entziffern wäre mir eine echte Herausforderung und Freude gewesen...
Zu dieser Geschichte inspirierte mich ein Foto von Myriade
*
die allerdings von Migranten nie anerkannt wurde.