Mittwoch, 14. Oktober 2020

Wolfgang Hilbig "Das Provisorium"

 

Gelesen habe ich dieses Buch schon vor drei Monaten 

und ich wollte sofort darüber schreiben...aber mein Bloggen 
geriet durch Alltagschaos ins Stocken.
Trotzdem soll dieser Buchtip nun hier noch rein. Unbedingt.


Der Name Wolfgang Hilbig sagte mir bisher nichts, nur mal gehört eben.
 Neugierig wurde ich durch Natascha Wodins "Nachtgeschwister".
 Die Leseprobe bei amaz*n, die ersten zwei Seiten... 
schreckten mich eher ab, diese ziemlich brutale Szene
 eines Miszverständnisses, einer seltsamen Wahrnehmung. 
Die detailreiche Schilderung, wie eine Schaufensterpuppe zerkloppt wird...


Ich bin also erst eine Weile um dieses Buch herumgeschlichen... dann kaufte ich es doch, gebraucht für einen Euro nochwas (den Autor aus der DDR schockierte es zutiefst, 

wie in der westlichen Welt Bücher Ramsch in Wühlekisten sind) - - -


Ich habe es nicht bereut, denn dieses Buch ist einfach genial!

Wenn ich eine Beziehungsgeschichte a la Wodin erwartet hatte... 
wurde ich mit viel viel mehr belohnt 
und das Lesen war ein ganz besonders Erlebnis.
Das habe ich sehr genossen.


Hilbig ist ein Meister im Wiedergeben von Stimmungen.

 Sei es ein lichtdurchfluteter Bahnhof, eine Einkaufspassage 
kurz vor Landenschlusz oder diese ganz besonderen Zeitstimmungen 
hier - damals - und drüben (BRD). 
Denn er hatte das Glück eines Arbeitsstipendiums im "Westen".
Von dem er nicht mehr zurück kam.

Obwohl er sich völlig fremd fühlte in der bundesdeutschen Realität.


Fremd war er aber in der DDR genauso. 

Und nicht anerkannt.
Bis ihn ein westlicher Verlag entdeckte und ein Büchlein herausbrachte,
was wiederum einen Stein ins Rollen brachte...

Und dann pendelt er in diesem Stipendienjahr mehrmals 

von hier nach drüben. 
Der in Wahrheit Heimatlose stellt Vergleiche an. 
Schonungslos. Detailliert. 
Schockierend teils und teils auch zum Schmunzeln.

Wenn er sich z.B. über den Inhalt von Bezahl-TV in Hotels ausläszt,

die Szenen und Aufnahmewinkel analysiert.
Ansonsten davon aber nicht angetörnt wird -


Schmerzhaft für ihn zu sehen, wie Bücher nur eine Ware sind.
Das kannte er so nicht und vieles andre auch nicht.
Sein Blick für Details ist einzigartig, 
seine Gedanken und Schlüsse erst recht.

Ehrlich und schonungslos, auch sich selbst gegenüber. 

Nein, er beschönigt nichts, das so notwendige Sich-Selbst-Vermarkten 
gelingt ihm nicht, das will er auch gar nicht.
Er ist, wie er ist.


Aus bildungsferner Schicht in die Tretmühle 

der Industriearbeit hineingepreszt, 
kommt er in den Werkshallen nicht zurecht, 
landet schlieszlich fernab der Fabrikgebäude einsam 
in einem Heizhaus.

Wo er freiwillig Nachtschichten übernimmt.

Das ist sein willkommener Freiraum.
Dort kann er all seinen Schmerz und seine Wut 
laut hinausschreien.
Ohne dasz es jemand hört.

Wenn die Kohleberge so schnell wie möglich geschippt

und im Feuerloch gelandet sind, kann er schreiben.
Ohne dasz es jemanden stört.


Erfolg bleibt ihm jedoch verwehrt. 

Individualismus ist unerwünscht, 
Einzigartigkeit und ganz persönliches Denken suspekt.

Mit dem Organ der inneren Sicherheit kommt er mehrfach in Konflikt.

Als er die Ablehnung seiner an einen Verlag geschickten Texte zitiert, wurde ich an mich selbst erinnert: genau so sah mein Ablehnungsschreiben damals auch aus! Da ging es kaum um die Texte selbst, da bekam man einen längeren Schrieb voll guter Ratschläge, 

wie man sein Leben zu führen hätte. 
Ratschläge, die Schläge sein konnten.

Ich versuchte es nicht noch einmal.


Er immer wieder, jedes Mal dieselbe niederschmetternde Antwort.

Überhaupt steckt da auch meine Geschichte drin: ersetze Dichter 

durch Textilgestalterin, dann paszt es haargenau. 
Diese Taktik, die ungeförderten, in sich selbst begabten Menschen 
so lange zu demütigen und mit allen (fiesesten und unsachlichsten) 
Mitteln niederzumachen, 
bis einer selbst nicht mehr an sich glaubt .

Darin waren sie einsame Spitze, damals im Arbeiter-und Bauernstaat 

und wer dennoch nicht aufgeben wollte, 
bekam es mit der Mielke-Behörde zu tun, 
denn er war zutiefst verdächtig.


Nun, Hilbig hat das Glück, im Westen anzukommen. Im Provisorium.

Denn Heimat kann dieses Kontrast-System für ihn auch nie werden.
Aber da ist die Frau, die er liebt und später heiratet
- er nennt sie im Buch Hedda -
und die doch meist sehr fern von ihm ist.

Beziehung kommt in seinem Buch (anders als bei Wodin) 

eigentlich nicht vor. 
Erwähnung ihrer fast nur in den Abwesenheiten, 
wenn sie sich von ihm distanziert hat, weil sie mit ihm nicht leben kann.

Er braucht sie und leidet sehr unter seiner scheinbaren Unfähigkeit, 

sie lieben zu können. Da wird viel im Alkohol ertränkt. 
Nein, er schont sich selber nie, weder im Leben, noch in der Beschreibung.
 
Ich will und kann nicht alles wiedergeben, das Buch ist für mich eine Sensation.
 Einfach genial und super gut geschrieben.
Und Wolfgang Hilbig ist meine Endeckung des Jahres.

Er schreibt genau so, wie Lesen mir Spasz macht: 

detailreich, poetisch, fast meditativ, berührend
 und teils auch brutal und verstörend.
Ohne zu viele handelnde Personen darin (was Lektoren bei ihm bemängeln), 
was es mir sonst oft anstrengend macht...

Längst habe ich weitere Bücher gekauft und gelesen.

Er läszt mich ganz sicher so schnell nicht wieder los!



PS:

Schon in Natascha Wodins Personenbeschreibung kam mir der leise Verdacht 

auf Asperger Syndrom, welcher sich jetzt weiter verfestigt hat.

Nicht, weil ich so gerne Laiendiagnosen stelle... und schon gar nicht negativ 

oder pathologisierend gemeint (ich habe die Diagnose ja selbst auch).
Sondern einfach als eine Art des Seins, des Denkens 
und der besonderen Wahrnehmung der Dinge.

Eine Art, die oft zu wenig umwelt- und mitmenschenkompatibel ist...

Eine solche Diagnose könnte zu weniger Selbsthass, mehr Selbstverständnis 

und eigenem Wertgefühl verhelfen. Und damit vielleicht auch zu weniger Suff? 
Irgendwie musz man das Leben ja meistern und ertragen. - Schade, dasz er 
dafür zu früh gelebt hat, als sich damit noch kaum jemand auskannte!

 

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