...wen berührt sie nicht, diese auf der ganzen Welt verständliche Sprache der Töne?
Astrid Ka. fragt diesen Monat nach. Ich antworte gern.
I
Ich war ein Kind der leisen Töne: fasziniert von Vogelgesang, Grashüpfern und fallendem Schnee, Blätterrauschen, Bachgemurmel oder dem Tropfen eines Wasserhahns.
Leise, sich wiederholende technische Geräusche von Apparaten, Regulatoren etc.
- wenn ich in solch einem Raum war, wollte ich da nicht wieder raus!
Irgendwas war da in einer Apotheke und irgendwann verloren sie die Geduld mit mir und Vater nahm mich protestierend auf die Schultern... ich erinnere mich dunkel, jedes Mal, wenn ich heute diese Apotheke betrete. Längst ohne dieses Geräusch.
II
Den ersten unmittelbaren Kontakt zu "musikalischen" Tönen
hatte ich mit ca. eineinhalb Jahren.
In H. die Großeltern besucht, kurz bevor diese hierher umzogen.
Omas Klavier. Eine Taste drücken und dann ein Ton. Sooo viele!
Ich bekam nicht genug und da wuchs in mir diese (unerfüllte) Sehnsucht
nach einem Klavier. Die mich Jahrzehnte begleitet hat.
Und die kein elektronisches Instrument, das auch in kleine Räume paßt, je stillen könnte.
Da die Oma in der Zeit des Umzugs scheinbar im Sterben lag,
wurde ihr Klavier einfach in H. stehen gelassen.
Sie hat dann noch 25 Jahre gelebt, ohne dieses und voll blind zuletzt.
Ich glaube, sie hat es sehr vermißt, als sie sich Beschäftigungen suchte,
die augenlos möglich waren.
III
Oma war es auch, die mir Schlaflieder sang und Opa nahm die Gitarre
und sang vom "Burle Burlala" und andre plattdeutsche oder westfälische Lieder.
Er war zu der Zeit schon sehr schwerhörig und hatte Mühe, die Gitarre zu stimmen.
Später, völlig taub, fühlte er die Musik, indem er die Hände
auf das überlaut gestellte Radio legte.
Der alte Holzkasten vibrierte.
In meinem Elternhaus wurde nicht gesungen oder musiziert.
Mein eigenes kindliches Gesinge wurde mir verboten, weil es offenbar gräßlich klang
und ich war auch später in der Schule nie in der Lage,
ein Lied korrekt zu singen, Töne zu treffen.
Eine verständnisvolle Musiklehrerin ersparte mir schließlich
das blamable Vorsingen vor der Klasse -
IV
Meine - es manchmal etwas zu gut meinenden - Eltern führten mich
schon früh an "gute Musik" heran ( Schlager oder Volksmusik waren sowieso tabu).
Lange vor der Schulzeit schon nahmen sie mich in viele große Konzerte mit.
Aber oft wartete ich sehnsüchtig auf das Ende oder wollte weglaufen,
weil mir diese vielen Töne und Instrumente einfach zu massiv und zuviel waren
und eine totale Reizüberflutung auslösten.
Physisch weh taten. Mich unter sich begruben.
Aber weglaufen gehörte sich nicht, Kinder hatten brav zu sein -
Habe mir sehr oft gewünscht, "schon groß" zu sein und selbst entscheiden
zu dürfen, dort NICHT hinzugehn!
Was ich damals schon mochte, war barocke Kammermusik, Cembalo, Spinett, Glasharfe und Holzbläser.
Die Matineen im Kleinen Schloß Blankenburg
oder im Kloster Michaelstein gefielen mir.
V
Später wurde ich in die Musikschule gesteckt
und man versuchte, mir Flötentöne beizubringen.
Für Saiteninstrumente war mein Gehör zu schlecht
(ich kann bis heute keine Gitarre stimmen, obwohl ich theoretisch weiß, wie das geht).
Das tägl. Üben mit dem Metronom, einem aufgezwungenen Rhythmus,
der nicht der meine war...wurden zur Qual,
bis ich schließlich nicht mehr konnte.
Ein Gutes hatte die Musikschule aber doch:
ich lernte das Noten lesen.
Fasziniert von der Möglichkeit, Töne in Zeichen umzusetzen
- das war etwas nach meinem Geschmackt, solch perfektes System!
Das kam mir später dann wieder zugute.
Wenn ich als Jugendliche keine Musik hören durfte
(Mutter störte das Radio und Kopfhörer oder Walkman gab es für mich damals nicht),
habe ich einfach Liederbücher oder Klavierauszüge "gelesen"
und mir die Musik dabei vorgestellt.
Das war ein schönes Spiel für mich.
VI
Mit knapp 14 und dank der Überzeugungsarbeit einer Freundin der Familie,
die auch mir wohlgesonnen war, hatte ich es endlich geschafft:
ich durfte zur Ballettstunde gehn!
Das war direkt im Theater: ein Haus, das von oben bis unten
angefüllt war mit Klängen verschiedenster Art.
In jedem Raum übte ein Sänger und irgendein Baß schmettete durch den Korridor...
Ein Feuerwerk, ein Gewitter von Klängen.
Das war manchmal wie durch einen Platzregen zu laufen.
Der Ballettsaal dann erstmal ruhig, wenn wir uns vor auf den Stühlen umzogen.
In der Ecke ein Klavier und das war immer meine Freude, bis unser Repetitor hereinkam.
Tasten anschlagen, wie in frühester Kindheit.
Nur aber nach Noten, die ich ja kannte.
Herr R. stand manchmal längst unbemerkt hinter mir
und er bot mir gratis Unterricht an in den Pausen.
Aber das brachte nicht viel, da ich ja zuhause nicht üben konnte
und meine Mutter sich vehement sperrte gegen ein Klavier im Haus.
Das Theater war leider in der Nachbarstadt
und jeden Tag das Busgeld bekam ich ja auch nicht.
Also nie Klavierspielen gelernt.
Dafür aber, mich besser zu bewegen.
Ich genoß das Stangen-Exercise, gelenkig und bewegungsfreudig war ich ja sowieso.
Und endlich etwas mit klarer Ansage: also Kommando und ich wußte, was zu tun war.
So läuft das normale Leben leider nicht ab, das besteht ja größtenteils aus Ungesagtem,
was man irgendwie erfassen soll oder aus Worten,
die anders gesagt werden als sie gemeint sind.
Für Autisten eine absolut unverständliche, verwirrende Welt,
in der man alles verkehrt macht und sich wie im falschen Film fühlt.
Oder auf dem falschen Planeten.
Beim Ballett herrscht Ordnung und klare Struktur.
Musik und ein exakt vorgeschriebenes Bewegungsrepertoire.
Ganz einfach wars nicht, jede Schrittkombination, jeden Sprung
hab ich mir mühsam zuhause nach einem Buch erarbeitet.
Denn da fehlen Autisten die Spiegelneuronen um etwas Vorgemachtes
gleich nachzumachen - so funktioniert das bei mir nicht.
Also: eine Tänzerin wäre ich nicht geworden, aber ich habe es genossen
und mich endlich zu bewegen gelernt.
Es gab keine bessere Möglichkeit, meine Grobmotorik zu schulen
und das eiserne Durchhalte-Training hilft mir auch heute noch ganz viel,
wenn der Alltag mit seiner Reizüberflutung mich restlos überfordert
und weit über die Kräfte geht.
Zusammenbrechen immer erst nach dem Schließen der Haustür.
VII
Über die Anwesenheit in einer Opernbühne kam ich dann schnell an Opern heran,
schulte mein Hörvermögen (endlich ohne Zwang und aus eigenem Antrieb)
und kam der Orchestermusik endlich näher.
Lernte, differenzierter zu hören und mich nicht mehr nur überfluten zu lassen.
Bald löste ich jedes Opernpreisrätsel im Radio,
teils knifflige Fragen, die sich nur mit Hilfe von Büchern beantworten ließen.
Das war mir eine willkommene Herausforderung!
Allerdings bekam ich Opern/Operetten dann auch sehr schnell wieder über.
Ab 20 ging mir der geschulte, künstliche Gesang
und diese konventionell-theatralische Gestik der provinziellen Inszenierungen
nur noch auf die Nerven.
Und viele Opern sind doch nach sehr ähnlichem Muster gestrickt,
ganz das Prinzip von TV-Serien und Unterhaltungsliteratur.
Interessierte mich dann nicht mehr.
Geblieben bis heute ist eine Vorliebe für Ballettmusik und Bühnentanz.
Das allein war damals auch die Motivation, mir doch einen TV zuzulegen.
VIII
Ich habe schon mal von meiner Faszination für fremde Sprachen geschrieben
und genauso ist es, wenn diese gesungen werden.
Oder sogar noch intensiver.
Und seit meinem ersten Russisch-Unterricht in der Schule
habe ich dann Radio Moskau gehört.
Glücklich über die Möglichkeit, nun eine dieser fremden Sprachen lernen zu können.
Und russische Lieder mochte ich sowieso.
Wenns irgend ging, habe ich Radio gehört,
auf den Dachboden verzogen damit...
Ganz viele dieser Lieder kenne ich bis heute, habe die Texte beim Zuhören gelernt.
Tonbänder aufgenommen, die waren jahrzehntelang mein größter Schatz
und technisch längst antiquiert.
Zugegeben: wenn niemand mithören konnte,
habe ich gerne auch mitgesungen, so bis 30, 40... dann später nie mehr.
Weiß nicht, warum.
Und heute ist meine Singstimme völlig verloren.
Dank I-Net viele dieser Lieder inzwischen wiedergefunden,
Texte erinnert, aber mitsingen geht gar nicht mehr.
IX
Zwischen 20 und 30, endlich von den Eltern weggezogen, mein eigenes Leben gehabt...und mir selbst dann die gesamte Klassik auf meine eigene Weise erschlossen.
Schallplattensammlung angelegt und von jeder Berlin-Fahrt
neuen Stoff mitgebracht aus dem Tschechischen und Ungarischen Kulturzentrum.
Die böhmischen Barockmeister oder die Renaissance-Laute des Daniel Benkö.