Donnerstag, 22. Juli 2010

Das kleine Mädchen mit dem Stern auf der Stirn

Das kleine Mädchen mit dem Stern auf der Stirn, das mit dem Tanz auf dem großen Gummiball, ist an der Reihe. Der Ball kommt hereingerollt, und hinter ihm läuft das kleine Mädchen mit dem Stern auf der Stirn. Ist das ein wunderschöner Stern! Leuchtend, glänzend. Und das kleine Mädchen, ein ganz niedliches, zartes Engelsgeschöpf mit (Wunder der modernen Technik) wunderhübschen, prächtigen kleinen Flügeln auf dem Rücken. Es macht eine solch reizende Verbeugung, dass die Zuschauermenge in Beifall ausbricht. Jetzt macht es sich bereit, auf den Ball zu steigen. Gedämpft fängt die Musik an zu spielen, während die Lichter ausgehen. Nur ein Scheinwerfer beleuchtet das kleine Mädchen mit dem Stern auf der Stirn, und alle sehen es hingerissen an. Manch einer hat es bereits lieb, manch anderer, der das Kunststück schon anderswo gesehen hat, staunt, wie sich das kleine Mädchen in einem Jahr ein solch engelhaftes Gesicht zugelegt hat (Wunder der Schminkkunst; so jung und schon so erfahren in der Kunst des Sichzurechtmachens). -. Es springt auf den Ball, der auf den Schub davonrollt, und tanzt, wie man in dieser Stadt nie zuvor und keiner der Zuschauer je zuvor hat tanzen sehen. Es fliegt ja beinah wie ein Engel. Und unendlich weich, zärtlich begleitet es die Musik zu dem zauberischen Tanz.
Schließlich rollt der Ball mitten in die Arena aus und die Musik hört auf zu spielen. Die Menge will stürmisch Beifall klatschen und wartet darauf, dass das kleine Mädchen mit dem Stern auf der Stirn auf den Boden springt. Statt dessen aber schlägt die kleine Tänzerin mit den Flügeln, erhebt sich langsam und sicher zum Flug, steigt hinauf bis zu dem Kronleuchter in der Mitte und fliegt, durch den großen Schlitz davon, während Beifallsgewoge aufbraust und das Jubelgeschrei die Zirkuspferde erzittern lässt. Die Menge ist ganz außer sich vor Begeisterung und will eine Zugabe: Man möchte ihr doch wenigstens das letzte Stück Flug, von der Arenamitte zum Kronleuchter hinauf und weiter (ein wahres Wunder der modernen Technik), noch einmal gönnen.
Der Direktor weiß sich aber gerade den großen Flug nicht zu erklären, läuft in die Garderobe des kleinen Mädchens und findet es dort tatsächlich auf dem Bett, ohne den Stern auf der Stirn, eiskalt, tot, ohne Puder und deswegen noch ein bisschen hässlicher als sonst. Sie hat sich nicht einmal ihr Kostüm für den Auftritt, den Flügel und den Stern aus dem Reisekoffer geholt.
Für sie, für die kleine Tote, hat das letzte Mal ein richtiger Engel aus dem Paradies getanzt.

Enrico Morovic
- aus dem Ital. von Sabine Schneider –
Rohwolt Verlag





3 Kommentare:

  1. Mascha,
    eine ergreifende Geschichte. Ich liebe Märchen, Sagen, Legenden. Immer wieder lese ich in alten Märchenbüchern.
    Bei Dir ist das aber trotzdem ganz anders. Du stellst so wunderschöne Bilder mit ein.
    Liebe Grüße
    Irmi

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  2. Liebe Irmi!
    Bei mir musz alles immer Bilder haben. Schon als Kind mochte ich Bücher ohne Illustrationen nicht. Und heute schaffe ich mir meine eigenen Bilder dazu.
    Muszte diesen Text nachträglich noch hier einfügen, weil er auf den eingescannten Leporello-Seiten leider nicht zu lesen war.
    Ich mache das aber absichtlich, dasz ich die Zeilen oft nicht gerade schreibe, sondern so kreuz und quer - dann musz der Leser suchen, wo es weitergeht... und dabei wird dann auch aufmerksamer gelesen. Habe ich festgestellt.
    Geht natürlich nur, wenn man das Buch in den Händen hält...
    LG Mascha

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  3. PS: Es sind dort im Orignial verschieden glänzende Seidenstoffe und goldene Engel/Sternchen mit verarbeitet. Das glitzert ein wenig wie im Zirkus. Kommt hier nicht so rüber.
    So ein Buch musz man eigentlich selbst in die Hand nehmen. Unbedingt.

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