Sonntag, 25. September 2022

Friedensgebet

 

Vielleicht doch noch

Vielleicht lernen wir doch noch, 
daß anderen nicht beigebracht werden muß, zu sein wie wir.
Anderssein ist weder Bosheit noch Makel. Und ob es sich lohnt,
uns zu gleichen, ist immerhin der Frage wert.
Vielleicht lernen wir doch noch, 
daß unsere Selbstverständlichkeiten nicht vom Himmel gefal-
len sind. Der liebe Gott hat unsere Rollen auch nicht ein für
allemal persönlich verteilt.
Vielleicht lernen wir doch noch,
daß jeweils noch nicht heraus ist, was einen richtigen Mann
ausmacht und eine richtige Frau. Wir tragen's immer neu
aus.
Vielleicht lernen wir doch noch,  
daß unsere Welt nicht zu sein hat, wie sie war. Sie wird auch
nicht so bleiben, wie sie ist.
Vielleicht lernen wir doch noch,
daß den andern in Schach halten noch kein Friede ist. Dieses
Schach-Spiel frißt das Brot der Hungrigen, Tag für Tag.
Vielleicht lernen wir doch noch,
daß Angst menschlich ist und kein Grund, sich zu schämen.
Aber unmenschlich ist es, andere an ihren Ängsten zu steuern
wie Puppen an ihren Drähten.
Vielleicht lernen wir doch noch, 
für die anderen einzutreten:
die vielen für die wenigen,
wer Stimme hat, für die Stummen,
die Starken für die Schwachen,
die "Normalen" für die, die anders sind. 
Vielleicht lernen wir doch noch, 
daß Arbeit Leben ist, daß aber Leben nicht in Arbeit aufgeht.
Daseinsrecht muß nicht erst erworben werden durch Leistung
oder Gesinnung.
 
Vielleicht lernen wir doch noch, 
die Hände ruhen und den Geist spielen zu lassen zu seiner
Zeit.
Vielleicht lernen wir doch noch,
freundlicher zu sein zu unserer Nährmutter Erde und ihr nicht
Schlimmeres zuzufügen, als sie heilen kann. Es ist nicht gut,
noch den letzten Sumpf auszutrocknen. Besser ist es, Störche zu
beherbergen. Und wer nicht achtgibt, produziert Wüste.
Vielleicht lernen wir doch noch, 
daß Verzicht nicht schon Tugend ist und daß anspruchsvoll sein
nicht schon Laster ist. Aber es wäre gut, zu verzichten, wo wir
heute Ansprüche stelen, und anspruchsvoller zu werden, wo
wir heute verzichten.
Vielleicht lernen wir doch noch, 
was leben heißt.
 
 Joachim Dachsel   (1921 - 2008) 
DDR-Theologe

1 Kommentar:

  1. Vielleicht,........lernen andere doch noch, daß wir nicht seine müssen, wie man uns gerne hätte?
    Ja, das einzig konstante ist die Veränderung. Stimmt…….
    Ich meine, es geht nicht explizit darum, daß "wir" (als Menschen) das lernen, weil.....wir das meiste ohnehin bereits wissen. Und JENE, die hier das Sagen haben, in "dieser Welt", die all' DAS initiieren, all' das veranstalten, dieses ganze (grausige) Szenario, und uns (Menschen) stets als kollektiv- und generalschuldig erklären, scheren sich keine Deut um "uns".....Menschen und die Erde.
    Das Problem, meiner Meinung nach, ist die derzeitige und anscheinend auch noch fortschreitende Verblödung der Menschen,……vor allem auch durch die Medien.
    Aber gut, ich bin versöhnlich ob der guten Absicht, mit welcher diese Worte sicherlich geschrieben wurden. Es ist ein schönes Gedicht, ohne Frage!!! Der Mann hat sich Gedanken gemacht und - zu DDR-Zeiten – so viel gesagt, wie es ihm möglich war, in diesen Zeilen.
    Sei lieb gegrüßt
    Rosi

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