Dienstag, 8. August 2023

Julie von Blomberg. Eine frühe Erinnerung.

 

Die Fakten:
Julie von Blomberg wurde am 30.6.1892 in Tiflis geboren.
Sie war griechisch-katholisch (melkitisch), vermutlich von der Mutter her.

Ihr Großvater: Friedrich Karl Johann Freiherr v. Blomberg, russischer Marschkommissar,
 geb. 18.9.1802 in Friedrichswalde, Kurland
Ihre Großmutter: Adelheid  Marie Brodowska  Grzymala
 
Ihr Vater: Ulrich Theophil Eberhard Freiherr v. Blomberg,  Kaiserlich russischer Oberstleutnant a.D., geb. 17.12.1959 in Friedrichswalde, 
gest. 16.12.1900 in St. Petersburg.
Ihre Mutter: Marie v. Emmanuel, geb. 8.10.1866 in Grusskoin, Gouvernement Cherson
Ihr Bruder Chlodwig kam am 8.5.1994 in Raigorod, Gouv. Lomscha zur Welt
 
 
Gefunden im Gothaischen genealogischen Taschenbuch der Freiherrlichen Häuser,
Band 58 von 1908. 
 

Gefunden auf Geni.com:

Ihre Mutter Maria von Blomberg geb. Emmanuel am 8.10. 1866 in Grusskoin
starb am 2.8.1938 in Charkov - sie war also nicht 
mit nach Deutschland geflüchtet, wie ich erst annahm.
 
Ihre müttlerliche Groszmutter Eudoxia Nikolajevna Lebedew
lebte vermutlich 1801-1861 und heiratete Nikolai Emmanuel.

*****

Die persönliche Geschichte der Julie von Blomberg liegt weitgehend im Dunkel,
erst in ihren allerletzten Lebensjahren bin ich ihr noch begegnet.


Ich verbrachte meine gesamte Kinder-und Jugendzeit in einer 
heruntergekommenen Villa in Wernigerode, Am Sonnenbrink 30.
Die Besitzerin (Namen weisz ich nicht mehr) lebte irgendwo "im Westen" 
und hatte vor Ort einen Hausverwalter eingesetzt, einen gewissen Herrn Wieden.
 
Solche Häuser wurden von den DDR-Behörden gerne mit diversen 
zufällig zusammengewürfelten Mietern vollgestopft, 
da hatten die Eigentümer - zumal "von drüben"- nichts zu sagen.
Abgeschlossene Wohnungen gab es da nicht und man bekam unwillkürlich 
mehr von den Nachbarn mit als heute. 

Unsere kleine Familie bekam 1962 dort zwei recht geräumige Zimmer 
plus Küche im Obergeschosz.
Ein anderes Zimmer wurde von einer alten Dame bewohnt: Julie von Blomberg.
Von den Hausbewohnern meist Julchen genannt.
Sie war freundlich, aber auch sehr zurückhaltend, ziemlich menschenscheu.
Sie sprach wenig und verliesz ihr einziges Zimmer nur selten.
Klein und zierlich sah ich sie meist in gebeugter Haltung mit einer emaillierten
Milchkanne durch den Korridor huschen und Wasser von der Gemeinschaftstoilette
- eine halbe Treppe tiefer - holen.
Ihr Zimmer hatte keinen Wasseranschlusz.

Kontakte hatte sie kaum, nur zu zwei alten Damen: Frl. Marie Flesch, Mönchstieg 3
(laut Wernigeröder Adreszbuch von 1928 bereits dort wohnhaft) 
und ihrer Schwägerin, Frau Flesch - sie wohnte zu meiner Zeit in einem kleinen 
einzeln stehenden Haus Am Ziegenberg (das ist längst abgerissen).
Sie waren wohl alle drei auf der Flucht vor den Bolschewiki in den Wirren
 der Revolutionszeit oder im anschlieszenden Polnisch-russischen Krieg (?)
 in Wernigerode gestrandet.
 
Es gab damals noch einige andere osteuropäisch klingende Adelsnamen
 in Wernigerode - vermutlich spielte das Missionswerk "Licht im Osten", 
wo die Wernigeröder Schriftstellerin Käthe Papke involviert war... dabei eine Rolle.
Der Gedanke kam mir zumindest beim Lesen von Käthe Papkes Erinnerungsbuch.

Dasz Julie v.B. aus Tiflis stammte, wuszte ich damals schon,
sonst hätten wir sie jetzt nicht so leicht identifizieren können.
Ihren Bruder hatte es nach Argentinien verschlagen, sagte sie damals selbst.
Eine der Flesch-Damen sollte eine russische Fürstentochter gewesen sein.
Da fand ich jedoch keine Spuren und es musz ja auch nicht alles stimmen, 
was damals so erzählt worden ist.
 
Julie v.B. wurde betreut von der Gemeindeschwester 
der Christengemeinschaft , Frl. Leni Wachsmuth (damals sagte man noch Frl.).
Sie kam regelmäszig ins Haus, brachte Lebensmittel, sah nach ihr 
und gemeinsam mit ihrer Schwester, Frau Erika(?) Knothe 
- beide wohnten Karlstr.2a -
erledigten sie die Hauswoche und was so anlag.

Ich habe Julie v.B. als Kind immer als steinalt wahrgenommen, 
dabei war sie offenbar erst 73, als sie starb.
Sie konnte durchaus noch allein hinausgehen, tat es aber sehr selten.
Nur zu Arztterminen oder manchmal zu den Fleschs.
Sie war etwas wunderlich und zeitweise auch verwirrt, 
da gab es deshalb mindestens einen Klinikaufenthalt.
"Sie erlebe ihre gesamte Flucht noch einmal" meinte Frl. Wachsmuth dazu.
Sie musz grausame Dinge durchgemacht und die Traumata nie überwunden haben.
Deshalb wohl auch ihre Zurückgezogenheit und Menschenscheu.

Wie gesagt, ich war noch ziemlich klein und kannte sie als freundlich.
Sie hat mir manchmal Dinge geschenkt: eine bunte Schachtel, einen kleinen 
Kerzenleuchter und ein winziges Weihnachtsbäumchen mit Miniaturglasschmuck.
Darüber hab ich mich immer sehr gefreut und einige dieser Glasornamente
habe ich bis heute bewahren können.
Meine Mutter war über "diesen Plunder" nicht amüsiert.

Ganz viel "Plunder" hatte sie in ihrem Zimmer, da war nur ein schmaler 
gangbarer Weg bis zum Bett und zum Fenster.
Man sah ihn später noch lange als helle Spur auf dem Linoleum.
Die letzte Spur, die von ihr übrig blieb...
Alles andere war vollgestellt mit Erinnerungsstücken und sonstigen Dingen.
Ich kann ihre Affinität zu Gegenständen durchaus nachvollziehen, 
die übrigen Bewohner waren entsetzt, wenn sie mal einen Blick durch die 
gerade geöffnete Zimmertür erhaschten.
Mich liesz sie manchmal sogar herein, ich stand dort mit andächtiger Scheu.

Es war später Herbst 1965, da ging sie frühmorgens zum Arzt und kam nicht zurück.
Frl. Wachsmut ermittelte dann ihren stationären Aufenthaltsort.
Bald darauf ist sie gestorben.

Ich weisz das deshalb noch so genau, weil meine Mutter hochschwanger war,
als sie beim Ausräumen und Renovieren des Zimmers mithalf.
Als dann mein Brüderchen da war...bekamen wir es als Kinderzimmer.
Ich war da gerade mal sechs Jahre alt.

Frl. Flesch ist wohl auch bald darauf verstorben, 
doch an Frau Flesch erinnere ich mich noch gut: eine kleine, sehr agile
 und rüstige Frau mit deutlich russischem Akzent.
Sie ging um 1967/68 herum zurück in die alte Heimat,
die nun Sowjetunion hiesz.
Die Übersiedlung war nur deshalb möglich, weil sie dort eine
Verwandte gefunden hatte, mit der sie zusammen leben und 
die sie pflegen wollte (eine eigene Rente hätte sie dort nicht bekommen).
Sie war voller Vorfreude und stolz, das geschafft zu haben - offenbar
war sie in Wernigerode doch nie wirklich heimisch geworden.
Mutter hat sie mit uns beiden Kindern kurz vor ihrer Abreise noch einmal 
in dem Haus Am Ziegenberg besucht und einige Haushaltsgegenstände bekommen.
Es war ja alles knapp damals in der DDR der Sechziger...
Damit endete die Spur.
 
 
Ich weisz ja nun nicht, wie lange Julie von Blomberg in der alten Villa  
Am Sonnenbrink 30 gewohnt hat - im Adreszbuch von 1928 suchte ich sie vergebens.
Vermutlich standen aber auch nicht alle Untermieter oder Verwandten mit drin (?)

Als einzigen Bewohner (Besitzer?) fanden wir 1928 einen Karl von Mentz.
Genau wie die von Blombergs ebenfalls ein hochrangiger Militär.
Laut Wiki stammt er aus Brandenburg, der kurländer Zweig 
der von-Blombergs aus Friedrichswalde, gar nicht weit entfernt.
Es ist evtl. zu vermuten, dasz sich die Familien kannten, 
vielleicht waren sie sogar irgendwie verwandt ?
Möglicherweise hat er deshalb Julie
nach ihrer Flucht bei sich aufgenommen.
Möglich, dasz sie dort früher im Obergeschosz lebten und nicht nur
diesen einen Raum hatten?
Allein lebende Bürger in winzige Räume zu pferchen...war jedenfalls eine Taktik 
gegen die Wohnungsknappheit in der DDR.
 
Ein Werner von Blomberg war ab 1933 Reichswehrminister
und der erste Generalfeldmarschall der Deutschen Wehrmacht.
Nach dem Einmarsch der Roten Armee in Wernigerode könnte es ihr 
unter sowjetischer Administratur
allein wegen ihres Namens noch einmal sehr übel ergangen sein.

Wie gesagt, das alles weisz ich nicht, es sind blosze Vermutungen.
Andere Zeitzeugen haben über solches Vorgehen berichtet.
Ich hätte zu gern mehr über ihr wahres Schicksal erfahren,
 aber sie selbst sprach nicht darüber. Nicht zu Fremden wie uns.

Danach kann ich nun auch niemanden mehr befragen. 
Leni Wachsmuth starb um 1995 hochbetagt im Pflegeheim Küsters Kamp.

***

Nicht so ganz erst gemeinte Gedanken:
Ich habe also von meinem 6. bis 19. Lebensjahr in dem Zimmer von 
Julie von Blomberg gelebt - vielleicht kommt daher das mir oft nachgesagte
"Flair des 19. Jahrhunderts"?
Vielleicht auch daher die russische Sprache doch ziemlich mühelos erlernt.
Vielleicht hat manche Schwingung von ihr doch noch lange nachgewirkt - wer weisz?
 
*
 
Was mir noch - real - von ihr geblieben ist:
das kleine Wörterbuch, das mir oft im Leben eine Hilfe war.
Es enthält sogar noch ihre Handschrift.




*********
 
Ich habe ganz bewuszt alle Namen und realen Adressen genannt.
Vielleicht sucht irgendwann ja noch einmal jemand nach Julie von Blomberg 
oder nach den Fleschs? 
Dann gibt es bei mir zumindest einige rudimentären Anhaltspunkte
ihres Daseins als frühkindliche Erinnerung.
 
Sie war mir jedenfalls sehr angenehm damals. 
Vielleicht auch gerade wegen ihrer zurückhaltenden Art.


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